21. Entlassung und meine unbeabsichtigte Rache

Unser Einäugiger war nicht der einzige Blinde im Bataillon.

Durch unsere nun bald täglichen Kugelattacken im Kompanieflur, sah dieser stark ramponiert aus. So kam unser Hauptfeldwebel Voigel zwangsläufig auf die Idee, nochmals alle kräftig zu schikanieren. Da unsere Schneider-Bandmaße (die letzten 150 Tage wurde pro Tag ein Zentimeter abgeschnitten) nun schon einstellige Tage anzeigten, war seiner Meinung nach eine Renovierung der Baracke unumgänglich. Objektiv betrachtet hatte er hierbei recht.

Es wurde also soweit es ging gespachtelt und gewerkelt. Die großen vielen Kugeleinschläge bekamen am Rand wieder einmal Latexfarbe verpasst. Dann wurden je nach Beschädigung ein DIN A4- oder A5-großer Papierbogen darüber geklebt und ein weiteres Mal überstrichen. Doch so konnte der Flur mit seinen vielen Flecken nicht bleiben. Da Herr Voigel mich besonders lieb hatte, wurde mir auch sogleich das Maler-Kommando “Flur” übertragen. Eins von mehreren.

Mit zwei Kameraden pinselte ich nun den gesamten Flur in Voigels Abwesenheit. Wir hatten jedoch keine Lust, die etwa 45 vollen Spinde zu verrücken. Hexenschuss noch kurz vor der Entlassung? Nein danke! So beschlossen wir, nur die freien Flächen mit der zugeteilten Latexfarbe zu streichen. Sah gut aus, unser Flur …

Auf jedem Schrank lag immer alarmbereit der fertig gepackte Rucksack. Die Säcke waren uns jedoch auch zu schwer, und so haben wir mit unserem Quast (große Streichbürste) immer schön drum herum gemalt.

2 Tage später wurden diese Rucksäcke samt Inhalt abgegeben, denn wir wurden ja bald entlassen … und nun sah es über den Spinden aus, wie der gemalte Himalaja in 3-D. Wir hätten uns schief lachen können. Der Spieß nicht. Unsere Farbe war fast verbraucht, so konnte auch nichts nachgebessert werden, und ich hatte die Aufsicht. Normal, dass sich Voigel nun an mir ausließ.

Meine Bestrafung erfolgte sofort: Nach Feierabend musste ich sein gesamtes Zimmer streichen – 4 Tage vor meiner Entlassung. Dazu wurde die Spießbude geräumt und unser Schreiber hatte die Mühe, alles was Voigel sein Eigen nannte, nun in den Wäscheraum umzulagern. Der Voigel war strunsdoof! Er hätte doch ahnen müssen, dass irgend etwas passiert!

Die Farbe war fast alle, doch mein Einfallsreichtum noch nicht erschöpft. “Soldat sein heißt auf Draht sein”, wurde uns ja immer eingebleut. Ich kippte also alle vorhandenen Reste, auch die von anderen Kommandos in einen Pott. Etwas Abtönpaste dazu und nach kräftigem Rühren war eine schöne neue Farbe entstanden.

So pinselte ich mit dicker Bürste an einem Abend die Wände des gesamten Barackenraumes, auch die bisher noch weißen Fensterrahmen waren mit von der Partie, ebenso der zentnerschwere bisher graue Panzerschrank. Das sollte meine gewollte Rache sein! Die Farbe war alle, mein letztes großes Werk war vollbracht.

Ich bemerkte aber schon beim Streichen, dass einige Leidensgenossen etwas komisch schauten, das hatten die mir offensichtlich nicht zugetraut! Dachte mir aber bei ihrer Reaktion nichts weiter dabei. Komischer Weise sprach aber auch niemand mit mir.

Am kommenden Morgen betrat Voigel den Flur und sah erwartungsvoll in seinen Dienstraum. Er wurde blass, dann wahnsinnig und schrie immerzu meinen Namen.

Ach, irgendwas stimmt nicht, dachte ich mir. Der Irre brüllte und brüllte. Die Offiziere kamen gelaufen und fingen an zu grinsen. “Sind Sie wahnsinnig?” fragte er brüllend. “ICH nicht, Genosse Hauptfeldwebel!” erwiderte ich und hatte alle Lacher auf meiner Seite. Er schäumte vor Wut, denn sein Zimmer war “schweinchenrosa” gestrichen. Kaum einer glaubte, dass ich dies nicht beabsichtigt hatte. Es war völlig ungewollt geschehen, doch wunderbar gelungen. Als ich ihm entgegnete, dass ich, nachgewiesener Maßen, farbenblind bin und ER doch meine Krankenakte verwaltet, hatte er verloren… So schnell kann’s gehen …

Die uns zugeteilten Trainingsanzüge gingen sofort in unser persönliches Eigentum über. Sie brauchten also am vorletzten Tag nicht zurück gegeben werden. Die hätte wohl auch kaum jemand haben wollen, so zerlottert und schmorkelig waren die schon. 2 Mann meiner Gruppe hätten ihre Anzüge aber dennoch fürs Fußballtraining zu gern gerettet.

Rainer und Jürgen hatten durch den Bataillons-Fußballclub schon laufend Vergünstigungen. Die waren oft beim Training und dem anschließenden Besäufnis und wir beim Reinigen irgendwelcher Sachen.

So war es uns ein besonderes Vergnügen, ihnen dieTrainingsklamotten abends vom Leib zu reißen. Die Bude tobte vor Freude und Spass! Ein Gefühl kam auf, als würden wir das ganze Lager platt machen. Aggressionen entluden sich im Positiven… Jedem, der nun unsere Behausung betrat, wurden die Sachen heruntergezerrt. Geschrei macht neugierig, und so wollten immer mehr wissen, was in Gruppe 1 los ist. Dadurch kam ständig neuer Nachschub für unser Lumpenlager. Der Voigel hat sich bestimmt die eine oder andere Mark mit den zerrissenen Sachen beim VEB-Altstoffhandel verdient… Der Lump.

Endlich, endlich, der allerletzte Tag war angebrochen. Tag 544!

Jeder EK bekam sein NVA-Entlassungstuch und ein NVA-Häkeldeckchen … ein abartiges Entlassungsgeschenk für junge Männer!

NVA-Häkeldeckchen

(Ob uns das wohl Lotte Ulbricht häkelte, oder etwa die Armeegenerals-Gattin Hoffmann, falls er eine hatte?) Sollten wir uns das Deckchen etwa, wie es die alten Omas früher taten, als Schmuck auf die Chaiselongue-Lehnen heften?

Die bunten EK-Tücher wurden nun mit allen möglichen Unterschriften unserer Kameraden versehen, als Erinnerung an die “schöne NVA-Zeit”.

Jetzt endlich zogen wir unsere zuvor wieder mitgebrachte Zivilkleidung an. Wir bekamen wieder menschenähnliche Züge und unsere Würde war wieder hergestellt.

Es folgte der allerletzte Appell. Für mich ein zunächst wundervolles Gefühl!

Unser Kompaniechef verteilte unter seinesgleichen reihenweise Beförderungen. Unser Zugführer wurde nun Leutnant. Toll. Aber unwichtig.

Jetzt kamen wir an die Reihe: Voll des Lobes wurden geschätzte 60% aller anwesenden EKs nun aufgerufen und mit der “Kratzerplatte”, dem verruchten Bestenabzeichen von Kompaniechef Wichtig belobigt. Oh, ich war mit von der Partie. Jeder von uns erhielt zudem das Reservistenabzeichen.

“Nun aber Genossen, müssen wir noch die ewig Uneinsichtigen bedenken. Sie werden im Anschluss noch das Heizhaus säubern.” Die Namen von den 10 Unglücklichen wurden verlesen. Ich war wieder dabei! Eben noch der Beste und jetzt der schlimmste Finger der Kompanie! So schnell kann’s gehen …

Ein Wechselbad der Gefühle! Da kam eine Wut in mir hoch, da ist einem alles egal. Ich trat ohne Aufforderung aus dem Glied, schnurstracks auf Wichtig zu: “Entweder ich bin der Beste oder aber der Schlechteste. Da sollten sie sich vorher einigen.” Ich gab mein Besten-Abzeichen mit den Worten “das können sie sich in die Haare schmieren” zurück. 90 Mann waren meine Zeugen.

Mein Wutausbruch wurde ignoriert! So, als wäre ich gar nicht da.

Fast alle durften nun ein letztes Mal aufsitzen, zur schönsten Fahrt ihres bisherigen Lebens… Wir 10 armen Geister aber stapften ins Heizhaus. Jeder bekam ein Messer in die Hand gedrückt, und den blödsinnigen Befehl, damit die Teer-Verguss-Fugen auf dem Betonfußboden im 2. Geschoss in den folgenden 2 Stunden gerade zu schneiden. Hätten wir es getan, wäre alles undicht geworden…

Wir hörten das 100-fache Gejohle der Überglücklichen, die durch das weit geöffnete Tor des KDP fuhren. Gearbeitet hat von uns niemand mehr, sollten wir etwa zu allem Übel auch noch unsere gute Kleidung versauen? Müssen Zivilisten denn überhaupt Befehle befolgen?

So standen wir nur noch blöd im Heizhaus rum. Bald wurden aber auch wir, ohne nochmals gearbeitet zu haben, aus dem Objekt heraus komplimentiert. Die Obrigkeit wollte ja auch nach Hause…

Wir wurden mit etwa 2 Stunden Verspätung auch zum Bahnhof Torgau gefahren und fuhren nur einen Zug später nach Leipzig. Hier trafen wir die meisten Kameraden vor ihrem Umstieg wieder. Endlich war ich Reservist und wieder frei – in meiner eingezäunten Heimat.

Unser Leiden in Neiden ist Geschichte…

Freitag, Dezember 11, 2009