Über die gesamten 40 DDR-Jahre wurden unsere sowjetischen
Besatzer die “Freunde” genannt. Das musste nicht
mehr verordnet werden, dass war mittlerweile üblicher
Sprachgebrauch. Aus Sicht unserer DDR-Oberen war es eine grobe
böswillige Beleidigung, einen Russen Russen zu nennen.
In der sowjetischen Besatzungsmacht, taten natürlich auch
alle Nationen des Vielvölkergemischs der Sowjetunion ihren
Dienst.
So wäre es wohl damals teilweise wirklich eine Beleidigung
gewesen, einen Kasachen oder Randmongolen als Russen zu
bezeichnen. Korrekt wäre nun der Ausdruck Sowjetmensch
gewesen. Doch wer wollte so ein Wortungetüm benutzen?
Also wurden uns “Freunde” aufs zwinkernde Auge
gedrückt.
Die bedauernswerten Besatzersoldaten bekamen in der UdSSR gleich nach ihrer absolvierten Schulzeit ein volles Jahr Grundausbildung in ihrer Heimat verpasst. Danach folgten zwei weitere entbehrungsreiche Soldatenjahre in der DDR. Unsere Armeezeit war gegen deren eine reine Volksbelustigung.
Viele von uns 450 Baupionieren bekamen während unserer 18
Monate reichlich Einblick in das sowjetische Kasernenleben.
So beschlossen die obersten Heeresstäbe beider Armeen, dass
wir “frisch geschlüpften” Facharbeiter
über 8 Monate sowjetische ungelernte Soldaten zu
“Baupionieren”, also Fachkräften, ausbilden
sollten.
In Jüterbog/Altes Lager waren tausende Russen stationiert.
Dreißig, vielleicht vierzig von denen wurden für 8
Monate nach Torgau abkommandiert. Sie wurden unter unserer
Anleitung “Spezialisten”. Im Russischen ist
offensichtlich jeder Ausgebildete ein Spezialist.
Die Soldaten wurden in der sowjetischen Kaserne in Torgau,
gegenüber des Fort Zinna, dem berüchtigten Zuchthaus
und der ehemaligen Hinrichtungsstätte, einquartiert.
Jeden Morgen wurden die Soldaten dann nach Neiden, zur 7 km
entfernten Baustelle kutschiert.
Nach täglicher Zuteilung in die einzelnen Bautrupps,
versuchten sie sich nun im Mauern, Putzen oder Beton
schippen.
Wenige Tage später schon blühte auf unserer Baustelle
der Schwarzhandel mit goldenen Armbanduhren. Diese wurden den
Soldaten offensichtlich von ihren Vorgesetzten mitgegeben,
welche selbst nicht dabei sein konnten oder durften. Utopische,
ja astronomische Preise machten anfangs die Runde. Doch nach und
nach regelte auch hier die Nachfrage den reellen Marktpreis. So
haben sich in der Folge etliche Soldaten und Vorgesetze mit
güldenen sowjetischen Zeitmessern ausstaffiert.
Sowjetsoldaten bekamen nie Ausgang, wohl nur einmal in 2 DDR-Jahren Heimaturlaub und waren ansonsten eingesperrt und all ihren schlimmen Repressalien, von denen sich Uneingeweihte keine Vorstellung machen können, ausgeliefert.
So waren “unsere Freunde” wirklich in einer
ausserordentlichen Glückslage, mit uns Dienst verrichten zu
dürfen.
Bei deren Vorstellung lernten wir schon ein wenig ihre
Mentalität zu begreifen. Jeder den wir fragten, behauptete
Moskauer zu sein. Das musste in ihren Augen wohl das
Grösste sein, aus der Hauptstadt zu stammen. Selbst ein
schlitzäugiger, gelbhäutiger Soldat behauptete
Randmoskauer zu sein und erheiterte damit die staunende Masse.
Unsere Neubau-Kasernenblöcke waren bereits montiert und nun
sollte der Aussenputz maschinell auf die Brüstungsplatten
unter den Fensterreihen gespritzt werden.
Genau zu diesem Zeitpunkt wurde die glorreiche Idee im Stab
geboren, einen sozialistischen Leistungsvergleich mit den Russen
an einem Sonntag zu veranstalten.
Die armen Schweine hatten jedoch noch nie eine
Mörtelspritze in der Hand und sollten nun damit gar einen
Oberputz auftragen. Dieses Ansinnen verdeutlichte mir schon
wieder die “Intelligenz” unserer Elite.
Egal: Es wurde mit ganzem körperlichen Einsatz gespritzt
und anschließend gewerkelt.
Die Russen bekamen zuvor noch Arbeitskombis und
Schweißerbrillen mit weißen Gläsern. Unseren
Mongolen haben wir binnen Minuten nicht mehr wiedererkannt. Eine
Mörtelkruste vom Scheitel bis zur Sohle überzog
ihn.
Unsere “Freunde” wurden bei der anschließenden
Auswertung zu Zweiten erklärt. Und das deutsche Team,
welches gewann, war “Vorletzter”. Gut dass es nur
zwei Teams gab.
Die Russen pellten sich aus ihren Putzkokons und durften nach
einem deftigen Essen in Ihre Kaserne fahren.
Die Arschkarte hatten die Sieger gezogen. Die mussten nun noch
den ganzen russischen Zinnober glätten …
Etwa zur Halbzeit Ihrer Ausbildung wurde ein Freundschaftsbesuch
in deren Jüterboger Kasernen befohlen.
Es war wiedermal ein Sonntag, als wir Soldaten der 2. Kompanie
in Ausgangsuniform aufsitzen mussten und in unserer Freizeit mit
LO und W50 nach Jüterbog fuhren. Das werden wohl 65 km
gewesen sein.
Es ist aber toll gewesen, dass ich mitfahren durfte, denn solch
einen Einblick, teils sogar hinter die Kulissen, erhielt sonst
kein DDR-Bürger.
Am Kasernentor nahe Altes Lager, bei Jüterbog wurde
absitzen befohlen. Nun marschierten wir in die Kasernenanlage
ein. Nach langem russisch/deutschem Palaver wurde erörtert,
dass wir Soldaten in einer Baracke mit Russen unser
“Festmahl” an langer, sehr langer Tafel
einnehmen.
Offiziere wurden nicht mehr gesehen. Die soffen ein paar
Örtlichkeiten weiter unter Ausschluss der
Öffentlichkeit.
Unser riesenlanger Holztisch entpuppte sich als Holzplatten auf
Böcken. Obenauf kam nichts als die Wahrheit! Als Tischdecke
dienten etliche Ausgaben der PRAWDA.
Für jeden Rekruten gab es eine Flasche rote Brause zu 21
Pfennigen. Nun streuten einige Soldaten körbeweise frische
Weissbrotscheiben auf die Zeitungen.
Auf der einen Seite der Festtafel saßen nur Russen. Wir
ihnen gegenüber.
Nun wurde das Festmahl serviert. Mich grauselt es heute noch.
Auf jedem Teller grobe Stampfkartoffeln und eine gehörige
Portion Euter! Keine Soße, kein Gemüse. Nur nacktes
Euter!
Mich hat es geschüttelt, und nicht nur mich.
Die Euterteile waren lediglich in Salzwasser gekocht. Sonst
nichts. Die sahen aus, wie ungeputzt frisch von der Kuh
abgeschnitten.
Wir haben allesamt dann das ganze trockene Weißbrot
aufgegessen und mit dem roten “Leninwasser”
gespült.
Hochinteressant aber war, unser Gegenüber zu beobachten.
Bei denen strahlten die Augen, die ließen es sich
schmecken und schmatzten genüsslich. Und fast jeder freute
sich über unser Freundschaftsgeschenk. Unsere Euter durften
die auch vertilgen …
So gestärkt ging es nun in eine Soldaten-Unterkunft.
Baracke natürlich, was sonst?
Gewienerter Flur. Dann Lenin-Gedenkzimmer! Ein ganzer Raum
voller Fahnen, Bilder, Büsten und Zeitungsartikel. Ich
bemerkte aber die ehrfürchtige Hochachtung, die alle
Rotarmisten ihrem Idol entgegenbrachten.
Einem Gott-Vater gleich.
Uns wurde nun ihr Schlafsaal gezeigt. Hier standen vielleicht 40
Einzelbetten. Maximal 70 cm breit. Je zwei Betten hatten einen
Nachtschrank. Der allgegenwärtige Bohnerwachsgestank roch
wie in unseren Behausungen. Der Bohnerwachs stammte offenbar aus
deutschen Reparationsleistungen.
Der Klubraum war die letzte Besichtigungsetappe in diesem
“Holztempel”. Hier standen ein Fernseher und mehrere
Billardtische. Eine Art Saloon-Tür machte uns neugierig.
Doch der verströmende Gestank machte klar, das die dahinter
befindlichen Toiletten (französiche) nicht weit sein
konnten. Hinter der Tür verbarg sich eine Pinkelrinne und
eine Vielzahl von schmorkeligen Löchern im Fussboden. Die
Wände waren mannshoch geteert.
Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen! Schade,
unsere Offiziere haben das nicht gesehen. Wir mussten in Neiden
zum Lokus immer noch 150 m laufen, hatten dafür aber etwas
bessere Luft im Klubraum.
Ansonsten aber hatten unsere Aborte was gemeinsames: Die waren
schlicht menschenunwürdig.
An diesem Tag sind wir alle innerhalb der Kasernenanlage noch in
ein Kino gebeten worden. Wir hatten die Freude einen Film
über den Großen Vaterländischen Krieg (2.
Weltkrieg) auf russisch mit ansehen zu müssen.
Das Verhalten der russischen Soldaten zu erleben war
interessant. Sowie einer lachte oder seinen Senf dazu abgab, gab
es Backpfeifen. Welcher Dienstgrad schlug, weiß ich
allerdings auch auf Grund der Dunkelheit nicht.
Da es auch in Jüterbog abends dunkel wird, durften wir
endlich wieder “heimwärts” in
“unsere” Barackenwelt …
Nun wieder im Bett liegend, ist so manchem klar geworden, dass
wir es noch vergleichsweise gut hatten. Den russischen Soldaten
wurden gleich 3 kostbare Jugendjahre geraubt. Und wie wir heute
wissen, sind bei deren Truppen Jahr für Jahr um die 500 (!)
Soldaten gestorben, verunglückt, erschossen worden. Jedes
Jahr!