16. Bergfest

Endlich war es soweit! Die Hälfte unserer “Haft” war abgehakt. Jetzt ging es uns wie der Volkswirt-schaft – es ging nur noch abwärts … Dem Ende entgegen fiebernd … Unser Fest fand Ende Januar illegal statt.

Doch Silvester war schon so ein festlicher Höhepunkt für uns. Da ich Weihnachten bereits Urlaub hatte, war auch ich zur Jahreswende mit der halben Kompaniestärke in Neiden. Alle Anwesenden haben im Klubraum einen kräftigen Punsch geschlürft, gebraut aus gesponsertem Rotwein und aus dem zuvor vom Spieß konfiszierten illegal eingeschleusten Fusel. Unerwartet trat gegen 23:00 Uhr unser Zugführer ins Gebäude. Er hatte frei. Dennoch kam er, uns alle zu begrüßen und uns ein gutes neues Jahr zu wünschen. Mitternacht wollte er zu einer kurzen Ansprache ansetzen. Es wurde nichts daraus! “Dies Jahr geh´n wir Heeme!” grölten die Thüringer und alle, fast alle, stimmten in dieses affige Geschrei ein. Nicht einer war nüchtern. Der Unterleutnant wurde nicht mehr erhört. Ich konnte ihm ins Gesicht sehen und erkannte einen tieftraurigen enttäuschten Blick. Er ließ seine Frau in Torgau in dieser Nacht allein, nur, um seine Soldaten zu trösten und bekam dies mit Gegröle, Spott und Verachtung gedankt. Was tat mir der Mann in dieser Situation leid …

Doch nun, Ende Januar, wurde das Bergfest zelebriert. Zuvor wurde aus einer Mörtel-Membran-Pumpe, die zum maschinellen Putzen verwendet wurde, wieder einmal eine “kaputte” gummierte Stahlkugel ausgebaut und verschwand … Ihre Größe etwa wie zum Kugelstoßen.

In der kommenden Nacht geschahen seltsame Dinge. Überall im Objekt geisterten Soldaten nur in langer weißer Unterwäsche, ihren grauen Socken, den dazugehörigen Strumpfhaltern und hohen Arbeitsschuhen, mit angelegtem Feldkoppel und Tragegestell herum. Alle trugen freiwillig Stahlhelme. Auf diesen wurden brennende Kerzen platziert. Wir alle kleideten uns seltsam und irrten umher … Ein Bild für die Götter!

Es wäre als Satelliten-Aufnahme bestimmt ein tolles Bild geworden … Die hoch gelobte DDR-Multispektral-Kamera wurde leider aber auch erst viel später ins All geschickt. Also, wieder kein Bild. Der Offizier vom Dienst war sicher kein Blinder, hat aber trotzdem nichts gesehen oder aber seine helle Freude im sonst so tristen Berufsleben gefunden. Kinder, was floss da für Alkohol. Wir haben Halloween im Januar erfunden!

Die Stahlkugel wurde ab jetzt gut versteckt und zu unregelmäßig stattfindender Volksbelustigung hervorgeholt. Immer nur dann, wenn keine Vorgesetzten in Sichtweite waren. Üblich war das “EK-Kugeln”, doch das ging auch schon ein viertel Jahr früher!

Dazu wurde die Kugel in unserem sehr langen, aber mit Spinden zugestellten Flur auf Reise geschickt – vom Ende her in Richtung Eingang, dann zurück … und auf ein Neues… Da innerhalb des Flures noch ein Windfang mit Holzschwelle errichtet war, brauchte die Kugel nur diese quer liegende Dachlatte erreichen und schon hob sie ab. Man glaubt gar nicht, wie schön Stahlkugeln fliegen können … Die landen aber auch! Meist in Form eines Einschlages! So wurden ab jetzt Barackenwände zerschossen. Wir waren ja Militärs! Bei den Pappmaché-Wänden aber keine große Anstrengung.

Morgens, wenn der Kompaniechef oder unser Spieß den Dienst antraten und ihre Meldung erhielten, war immer erst ihrerseits ein Kontrollblick auf ihre geheiligten Hallen gerichtet. Dann folgten Strafen! Täter nicht auffindbar? Kein Problem: “Kompanie, Alarm!!!”

Oder es wurde der Kompanie nach dem Abendessen befohlen, vor der Baracke im “Stillgestanden” auszuharren. Einzeln wurden wir Soldaten in unsere Stube gerufen. Jetzt musste der Spind geöffnet werden. Die Razzia begann: Selbst das Vorhängeschloss vom Wertfach musste geöffnet werden. Nun wurde von einem Offizier oder Uffz. der Spind kurz oben angekippt, so dass alles an Inhalt heraus fällt. Dann kam der nächste Soldat an die Reihe. Gleiches Spiel. Alles, auch die wenige persönliche Habe, flog auf den bereits daliegenden Haufen. Und so weiter… Wenn dann ein Zimmer genug verwüstet war, waren die Heinis eventuell befriedigt, wenn nicht, waren weitere 5 belegte Stuben zur Verwüstung freigegeben. Die Kugel wurde nie gefunden!

Der Ärger wegen der Razzia war auf unserer Seite dann zweigeteilt: Erstens durften wir in unserer Wut keinem dieser hirnlosen Ekelspakete je Schläge anbieten. Die waren ja dann auch nie allein! Die hatten nach ihren Attacken garantiert Schiss! Zweitens wurde sofort verlangt alles tipp-top wieder einzuräumen. Anschließend erneute Kontrolle. Wäre da manch Vorgesetzter einzeln erschienen (was natürlich nie geschah), hätte es bestimmt manchen Totschlag im Affekt gegeben.

Irgend eine Schikane ereilte uns tagtäglich, erreichte aber nicht mehr wie anfangs seine Wirkung. Die Truppe stumpfte immer mehr ab und scherte sich immer weniger um tobende Litzenträger … Unter uns aber herrschte immer mehr eine wohltuende Solidarität. 18 Monate lang.

Dienstag, Dezember 15, 2009