10. Arbeiten nach Dienstschluss

Auf die langen Arbeitszeiten und unser Sklavendasein gehe ich jetzt ein.

Während der folgenden 18 Monate war es für uns ungeschriebenes Gesetz, dass wir mit jeder Arbeit zu jeder Stunde rechnen mussten. So stand 18 lange erdrückende Monate unsere Freizeit zur Disposition.

Wurde der von oben gestellte Plan nicht erreicht, wurden “Bau-Übungen” angesetzt. Das war die schöne Umschreibung für mindestens 12-Stunden-Schichten. Die längste von uns je erbrachte Schicht dauerte sogar 36 (!) Stunden. Nur durch Essenspausen unterbrochen, kein Schlaf. “Das ist militärisches Bauen, Genossen!” tönte es dann aus dem “Robur-LO” (das war ein kleiner LKW mit aufmontierten Lautsprechern). Eine Losung hieß damals: “Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!” Nein, unter solch unwürdigen Umständen, wie wir hier arbeiteten, wollte ich niemals später mein Leben fristen. An dieser Agitation und Propaganda war einiges faul, die war nicht zu Ende gedacht!

Dem Alter geschuldet habe auch ich mir zu vielen Dingen die in Neiden geschahen aber erst viele Jahre später meine Gedanken gemacht.

Die Lautsprecher beschallten die gesamte Baustelle tage- oder auch nächtelang mit Durchsagen, Durchhalteparolen, DDR-Schlagern und Marschmusik. Grauenvoll, nervtötend! Stellt euch vor: Ihr dürft nicht schlafen. Ihr müsst statt dessen Tag und Nacht arbeiten und Frank Schöbel (damals aktuellster Schlagerbarde in der DDR) trällert zu jeder vollen Stunde “Wie ein Stern in einer Sommernacht, ist die Liebe wenn sie strahlend erwacht”. Da kommt man sich, so weggeschlossen und ausgebeutet, irgendwann sehr verscheißert vor … denn wir hatten den Mond über’m Nüschel und die “Geliebte” auf dem Rücken, die Kalaschnikow … Und die Wut im Bauch, fast immer zu solchen Anlässen.

Nach normalen Arbeitstagen wurden wir gruppenweise regelmäßig nachts zum Kartoffelschälen verdonnert. Schluss war logischerweise immer erst, wenn 450 Portionen im Topf waren. Jeder schälte also etwa 45 Portionen. Dann erst hieß es “gute” Nacht.

Der Erste Zug unserer Kompanie war aber wesentlich schlimmer gestellt als wir. Die 30 bis 36 Mann mussten nach Feierabend unregelmäßig nachts auf den Bahnhof Elsnig. Dort kamen lose abertausende, unverpackte Ziegelsteine in geschlossenen Viehwaggons an, gezählt wurde in Hunderttausenden. Paletten und Gabelstapler waren in damaliger DDR-Zeit undenkbar.

Jeder einzelne Stein musste durch die Waggontüren geworfen, gefangen und auf einen russischen “Krasz”-Kipper geladen werden. Die armen Schweine haben oft 2 bis 3 LKW-Fuhren während ihrer normalen Schlafenszeit beladen müssen – ab 6:00 begann dann wieder ihr regulärer Dienst! Und das, nach meiner Schätzung, im Rückblick auf die unverschuldete “Haftzeit”, mindestens in 80, wenn nicht gar über 100 Nächten … Da ist der Ausdruck “Sklave” keine Übertreibung. Ich selbst musste nur 2 oder 3 mal dorthin, konnte mir aber dadurch ein eigenes Bild verschaffen und kann heute schlau mitreden.

Wir vom 2. Zug mussten hier nur selten aushelfen, uns wurden dafür andere Schikanen aufgebürdet. Es bereitete der Führungsspitze keinerlei Probleme die eigenen Baupioniere an den Torgauer Hafen zu verborgen. Wir hatten dann die Freude Kristallzucker in 100-kg-Säcken auf einem Hamburger Binnenschiff zu verstauen. Schön weit runter in den tiefen Laderaum. Der Zucker lag bis etwa 12 Sackschichten übereinander. Die Säcke wurden in zwei nebeneinander liegenden Reihen von Bordwand zu Bordwand verstaut. Zu den nächsten zwei Reihen mussten 80 cm Freiraum bleiben. So konnten vor der Grenzüberquerung Spürhunde an Geschirren bis auf den Schiffsboden hinab gelassen werden.

Der Hamburger Kapitän bettelte uns an, keinen Blödsinn zu veranstalten. Dem hatten schon einmal andere NVA-Soldaten in den untersten Reihen alte Fußsocken deponiert. Bei der Grenzkontrolle erschnüffelten dann die Schäferhunde etwas und der Kapitän hatte die Bescherung – musste alles umladen, bis die Socken gefunden waren. Die durften nicht mit in den Westen. Wäre ein Flüchtling entdeckt worden, wäre dies eine arme Socke gewesen…

Spätestens nach solchen harten Arbeitsdiensten sah jeder unserer Vorgesetzte geschundene, übermüdete und verzweifelte Soldaten. Und niemand hat eingegriffen – auch die wenigen wahren überzeugten SED-Genossen, die es durchaus gab, schwiegen. Am selbst auferlegten Schweigen und Kuschen krankte übrigens schon damals das System und läutete langsam aber beharrlich seinen Untergang ein. Mit der Förderung genau dieser Haltung hat die viel beschworene Parteiführung der SED ihre Zukunft, ihre eigenen Ideale verraten.

Damals hatte die DDR schon ihren Zenit überschritten. Es wußte seinerzeit natürlich nur noch niemand! Auch ich war kein Nostradamus!

Ich selbst bin zu der Zeit aber schon so stark, manche sagen auch stur gewesen; war eben das alles ertragende Schaf und habe dadurch alles recht gut ausgehalten … Andere verzagten.

Ich hatte nur ein Ziel, nämlich meine Entlassung vor Augen, habe mit diebischer Freude jeden einzelnen Tag der verging abgestrichen. Meine Eltern hoben noch jahrelang meine Briefe mit den Bandmass-Schnipseln auf.

Ich selbst habe aber, sogar an den ganz ganz wenigen freien Sonntagen, Kameraden heulen sehen, bis hin zum bittersten Nervenzusammenbruch, der ärztlich behandelt werden musste. Ich hatte da etwas mehr Einblick als meine Stubenkameraden, da mir zusätzlich noch das Amt eines Hilfssanitäters aufgebürdet war. In dieser Funktion erfuhr ich später auch mehr beiläufig, dass es “Einsätze” von dumm-geilen Sani-Unteroffizieren gab, die gar nicht in dieser Form statthaft waren. Und dennoch wurden sie geduldet.

So wurden auch wir kurz nach Beginn einer unserer ersten Nachtruhen von einem Sanitäts-Unteroffizier zur “Schwanzkontrolle” aufgefordert. Das Licht ging wieder in der Kompanie an und dieser Mensch schrie dann besagtes Wort in die bereits schlafende Baracke!

Dieser Perverse verlangte von allen 70-80 Soldaten ihre Genitalien im Bett frei zumachen. Er ging zu jedem Einzelnen und verlangte die übliche Untersuchungs-Prozedur: “Vorhaut zurück!” Er ergötzte sich an den vielen “schönen” Vergleichsmustern, gab teilweise auch blöde Kommentare von sich und verschwand dann wieder in der dunklen Nacht. Jeder Offizier hatte hiervon Kenntnis, doch keiner hielt ihn zurück. Demütigungen waren gewollt!

Noch nie zuvor habe ich so offen hierüber berichtet, zu verborgen, zu vergraben waren mir viele Erinnerungen. Beim Schreiben aber sind Emotionen hochgekommen, sind Pausen nötig, so oft kommt wieder bloße Wut und Abscheu in mir auf…

Vor meiner Schreiberei habe ich einen Stubenkameraden nach 38 Jahren erstmals angerufen. Als die Sprache auf Neiden kam, meinte dieser, es sei aber doch in Neiden noch recht erträglich gewesen… Das hat mich zutiefst erschüttert! Hat er während seines späteren Reservisten-Einsatzes (nochmal 3 Monate in Mecklenburg) etwa noch Schlimmeres durchgemacht? Wie kann man sonst diese Geschehnisse, all die hundertfachen Erniedrigungen vergessen? Oder verdrängen? Psychische Folter hinterlässt doch Spuren! Eben dieser Kamerad war auch einer derjenigen, der hilflos und völlig apathisch nach mörderischen Schikanen und nach 3 Runden auf der Sturmbahn im Wald zusammenbrach. Er war es auch, der mit einer schweren Nierenbeckenentzündung viel zu spät nach qualvoller Nacht, erst nach meiner Intervention beim Feldscheer, in die Krankenabteilung verlegt wurde. Abends wurde eben für einen gewöhnlichen Rekruten kein Arzt bestellt … So einfach war das!

Es mussten sogar Soldaten einer anderen Kompanie nach der Sturmbahn-Quälerei mit Herz-Rhythmusstörungen im Krankenhaus behandelt werden! Muß es erst soweit kommen? Das erfuhr ich dann bei internen Schulungen im Med.-Punkt. Wir Hilfs-Sanis wurden jedoch zum Schweigen verdonnert. Kein Wort durfte nach außen dringen! Nicht mal in die Truppe getragen werden. Verantwortliche wurden nicht, wurden nie belangt!

Das darf nicht vergessen werden … und darum schreibe ich alles auf. Denn auch das war Walter Ulbrichts und etwas später Erich Honeckers Sozialismus! Heute wird mich für den Bruch meines Schweigegelübdes sicher niemand mehr standrechtlich erschiessen wollen…

Ihr, meine Kinder und Enkelinnen, sollt wenigstens einen kurzen Abriss vom real existierenden militärischen Sozialismus erfahren.

Damals und auch nach unserer Entlassung konnten wir nie darüber sprechen. Mit Niemandem. Uns war bei Strafe verboten “Militärgeheimnisse”, welcher Art auch immer, auszuplaudern oder gar anzuprangern. Dafür war Stasihaft in Schwedt angedroht. Das hat nach gründlichen und einprägsamen Belehrungen keiner, wohl kaum einer riskiert…

Es gibt aber auch eine lustige Anekdote:

Wenn ich an meinen verstorbenen Freund Udo denke, kommt mir folgende Geschichte sofort wieder in den Sinn: So wollte der Bataillons-Politoffizier Major M. an seinem Privathaus in Torgau bauliche Veränderungen durchführen lassen. Die sollten natürlich preiswert sein. So bestellte dieser einige “Billiglöhner”, also seine Soldaten, auf “freiwilliger” Basis nach Dienstschluss mehrmals zum Arbeiten.

Mein Freund Udo W. war einer der “Auserwählten”. Dort hatte Udo aber nichts Wichtigeres zu tun, als der Frau des Oberstleutnants sein Leid zu klagen, sprach im Besonderen die hygienischen Bedingungen in Neiden an. Das hat die Frau zutiefst gerührt, dass sogleich deren Tochter Badewasser einlassen musste und mein Udo bei “Offiziers” splitternackt in der Wanne planschen durfte. Doch dann kam was kommen musste! Nämlich Offizier M. nach Hause und erblickte Udo in seiner geheiligten Badewanne. Frau Offizier hat sofort ihren Gatten ob der unhaltbaren Neidener Zustände belöffelt… Udos Bad war dann sehr schnell beendet und auch sein Sondereinsatz. Wir haben uns kaputt gelacht… Eine Bestrafung Udos konnte nicht erfolgen, denn dann wäre ja heraus gekommen, dass Genosse “Politnik” seinen Staat beschiss und schwarz bauen ließ…

Und nun wird’s auch schon wieder ernst.

Übrigens hatte unser Essenszelt eine feste Betonplatte, aus deren Boden noch Fragmente von Heizungsrohren ragten. Die abgeschraubten Heizkörper hatte der gleiche Politoffizier unmittelbar vor unserer Militärzeit im Frühjahr 1970 in seinem Haus verbaut. Ob von der NVA gekauft oder geklaut, ich weiß es nicht. Der nächste Winter aber war unserer! Wir mussten dann bis minus 15 Grad im nun ungeheizten Zelt essen. Nun sage jemand, dass der kein Verbrecher war.

Wenn er selbst zu Tisch saß, dann in der massiv gebauten Offiziersmesse neben der Küche. In wohlig beheizten Räumen aßen die Unteroffiziere getrennt von den Offizieren an blanken, nackten Holztischen. Im Nebenraum, der Messe, an weiß eingedeckten Tischen mit Servietten drapiert, genossen die Genossen des Stabes ihr Mittags-Menü, natürlich von der Ordonanz serviert…

Wenn nun der Bataillons-Polit-Chef durch die Gardine sah, blieben ihm die einreihigen Soldatenschlangen, die bei Wind und Wetter, also bei Sonne, stärkstem Regen und bei Schneesturm nach Essen anstanden, nicht verborgen. Er sah, wie diese 3 mal täglich in 5 bis 20 Minuten bei Minusgraden ihr Essen in unwürdigster Weise verabreicht bekamen.

Der gleiche Verbrecher wollte dann im Politgespräch junge Menschen für die “Sozialistische Sache” begeistern. Wie blöd oder dreist war dieser Mann? So war die ganze Riege in Neiden. Denn auch der Bataillons-Kommandeur und der Stabs-Chef saßen hinter der Gardine, labten sich und sahen nur was sie sehen wollten.

Unterlassung ist auch ein Verbrechen. Verbrechen an der Menschlichkeit! Viele solcher Ganoven liefen 1990 dann zu ihrem gehassten Klassenfeind über und ließen sich bundesdeutsche Litzen anheften. Hier zeigte sich, was das DDR-Militär war: Eine große Anhäufung Uniformierter mit vielen verlogenen Karrieristen an der Spitze.

Montag, Dezember 21, 2009