Kurz nach der Vereidigung durfte auch ich das erste mal in den Ausgang. Aus Angst, wir könnten uns nicht finden oder gar verlaufen, geschah der erste Ausgang kindergartenmäßig in Gruppen. Wir wurden nach 7 km Fußmarsch durch Torgau geführt. Immer schön in Zweierreihe. Nur anfassen brauchten wir uns nicht…
Wollte jemand etwas kaufen, warteten alle Übrigen vor dem Laden, bis die Vollzähligkeit wieder gegeben war. Es war schlicht lächerlich. Spätere Ausgänge durften dann einzeln und theoretisch wöchentlich erfolgen.
Vor jedem Ausgang oder Urlaub gab es einen Appell. Jeder Ausgänger-Appell war ein Spießrutenlaufen mit bestimmt 30% “Durchfallquote”. Wenn der Diensthabende angeblichen Dreck im nagelneuen Kamm fand, oder ihm eine Bügelfalte in unserer Ausgangshose nicht gefiel oder das Feldbett eine Delle im Laken hatte, oder kein Kondom vorzeigbar war, wurde der Freigang innerhalb 5 min gestrichen. Dann blieben wir ja auch nicht mehr ruhig und so folgte meist statt Ausgang eine weitere Strafarbeit.
Da wir bei der NVA niemals Toilettenpapier erhielten, passierte es doch öfters, dass in misslicher Lage, hervorgerufen durch Ermangelung von Selbigem, ein Hosenbein oder ein Ärmel der Unterwäsche dran glauben musste. Das war nicht schön, aber notwendig! Das passierte meist während Geländeübungen. Man musste nur zusehen, bei der nächsten Wäscheabgabe den Schreiber abzulenken, und schon war solch ein ruiniertes Wäschestück im Wäschesack verschwunden. Logisch, dass bei 400 Mann dann öfters mal beim Erhalt gereinigter Wäsche etwas Kurzbeiniges oder -ärmeliges dabei war.
Oder man bekam total aus der Form geratene Wäsche. Hemden 30 cm lang, dafür aber 1 m breit. Was machen? Anziehen und 8 Tage später wieder abgeben!
Hin und wieder klappte es nun doch, Ausgang zu erhalten und der “Freizeitspaß” begann. Das erste Hindernis waren 2 km bis ins nächste Dorf oder 7 km bis in die Stadt Torgau. Das letzte allerdings erst recht! Da waren wir meist angetrunken … Manchmal auch volltrunken.
In Torgau angekommen schlenderte man kurzzeitig durch die Straßen und begab sich dann oft missmutig in eine x-beliebige Kneipe. Wo sonst sollte man auch hin? Die meisten Mädchen wurden hier offensichtlich zu unseren Ausgangstagen vorsichtshalber weggeschlossen. Denn es gab in Torgau noch eine Einheit mit über 1.200 Mot.-Schützen und mehrere tausend Russen. (Die armen Soldaten aber waren keine Konkurrenz, erhielten niemals Ausgang) Es bestand also keine große Chance in Torgau für paarungswillige Jünglinge… Die wenigen Dorfschönen die noch frei rumliefen, hatten täglich meist mehrere Stelldicheins nacheinander … das war aber nicht nach meinem Geschmack!
So wurde als Ersatzbefriedigung der “Sternburg”-Bier-Konsum gehoben. Aufpassen mussten wir nur, dass wir bis 22:00 Uhr wieder in der Kaserne waren.
Manchmal hatte man Glück und wurde ein Stück des 7 km-Weges von einem unserer Einsatzwagen mitgenommen.
Später einmal, viele Monate später, befanden sich Uffz. Tipps und ich in doppelter Damenbegleitung und lauer Sommernacht auf dem Rückweg. Elke R., ein schönes Mädchen, was ich auch schon mal zum Tanz bei der Mutti abholen durfte, brachte mich ein Stück des Wegs. Beim sie nach Hause bringen hätte ich abends keinen Wohnungszutritt erhalten, so war es für uns logisch, dass Elke mich brachte. Ich hatte zwar auch kein Zimmer, aber…
Am Abzweig Zinna / Süptitz stand damals eine Molkerei, um welche die F182 herum gebaut war. Schöne tiefe und dicht begraste saubere Straßengräben begrenzten damals die Molkereikurve. Unsere herzige Verabschiedung fand schon eine ganze Weile in besagtem Graben statt, da tauchten Lichter auf. Wolfgang Tipps erkannte den Einsatzwagen und sprang auf die Straße und winkte. Bremsen quietschten. “Mensch beeil dich, in 10 Minuten ist Zapfenstreich” hörte ich ihn rufen. Wegen UE (unerlaubten Entfernen) wollte ich auch nicht bestraft werden, und so ließ ich Elke, die arme Elke, im Straßengraben liegen. Schnappte meine Sachen und sprang auf den LKW. Ja, die Zeiten waren hart, ab da musste ich wieder alleine tanzen … So schnell kann’s gehen…
Heute ist die Molkerei abgerissen und die Kurve begradigt, doch ein Gedenkstein für dieses Ereignis wurde nicht gesetzt. Schade!
Nach langen 12 Wochen und unzähligen Briefen wurde immer kompanieweise der Heimaturlaub erteilt. Es gab insgesamt 5 mal, nach jeweils 12 Wochen, regulär den verlängerten Kurzurlaub. Das war von Freitag 14:00 Uhr nach Dienst bis Dienstag 06:00 Uhr zum Dienst.
Nach dem Urlaubsappell, gleiches Muster wie beim Ausgang, wurden wir zum Bahnhof Torgau gefahren. Wenn wir nachts 2:15 Uhr zurück kamen, mussten wir meist laufen. 10 von unseren insgesamt 18 Urlaubstagen während eineinhalb Jahren waren dann schon verrechnet. Die verbleibenden 8 Tage sollten dann als “Jahresurlaub” zusammenhängend genommen werden. Bei einem eventuellen außerhalb der Norm erteilten Sonderurlaub wurde einem der jeweilige Tag dann vom Rest abgezogen. Zivilerlaubnis habe ich nicht einmal erteilt bekommen. D.h. auch im Urlaub musste Uniform getragen werden (wurde aber nie befolgt).
Nachdem am 6. September 1970 mein Vater, Euer Opa und Uropa Reinhold, an seinem 45. Geburtstag schwer erkrankt ins Kreiskrankenhaus Quedlinburg kam, habe ich Sonderurlaub beantragt. Da es damals um Leben und Tod ging, wurde der Urlaub sofort vom Kompaniechef Wichtig genehmigt. So habe ich nach Dienstschluss in Eile meine Ausgangsuniform angezogen und mich zum Einzelurlaubsappell beim Spieß gemeldet. Der zeigte mir den unterschriebenen Urlaubsschein, griente dumm und hat dann ohne einen Grund zu nennen, meinen Urlaub gestrichen. Da half kein lamentieren. Und niemand hielt ihn zurück … Unser Kompaniechef nahm es tags darauf so hin, die Pfeife! Stellt Euch mal vor, wie mir da wohl zu Mute war, nicht wissend, ob man seinen Vater jemals wieder sieht…
Zu einem späteren Sommerurlaub 1971 bin ich durch alle schikanösen Kontrollen gerutscht und mit besonders “schöner” oben beschriebener Unterwäsche nach Hause gefahren. Unsere 5-Parteien-Hausgemeinschaft in der Quedlinburger Süderstadt war eine ganz taffe, fidele Runde. Als ich ankam saßen alle Hausbewohner im Garten und feierten. Die feierten sommers eigentlich immer. Toll! Da habe ich mich gleich dazu gesellt und recht bald wegen der Sommerhitze auch freigemacht. Erst Gejohle und dann trat eine tiefe Beklemmung, ja Betroffenheit ein. Dass NVA-Soldaten so rumlaufen mussten, konnte und wollte sich niemand vorstellen. Doch ich war der lebende Beweis … Auch meine Eltern waren dabei.